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01.02.2002

Mit Che's Zärtlichkeit halt

Augustin:

Mit Che’s Zärtlichkeit halt

Dass es in der sozial gespaltenen Stadt Wien zumindest embryonale Ansätze von Selbstorganisation der Marginalisierten und Unterprivilegierten gibt, ist umtriebigen Menschen wie Sylvia Wilke – und derem langen Atem – zu verdanken.
Es war Donnerstag. Vergeblich hatte ich in den vergangenen Tagen versucht, Sylvia Wilke zu erreichen. Freitag ist Redaktionsschluss. Plötzlich eine beruhigende Idee: Heute ist die hundertste Donnerstags-Demo. Du wirst die Sylvia dort treffen. Ich traf sie, selbstverständlich. "Es ist ungefähr die 50. Donnerstags-Demo, an der ich mitlatsche", sagte sie. "Wenn das Wetter nass und kalt ist, muss ich schwänzen, aus gesundheitlichen Gründen". Tief wie ihre Stimme ist ihre Verstrickung in die (alternative!) Politik. Als grüne Bezirksrätin aus Floridsdorf hat Sylvia Wilke eben einen persönlichen Erfolg erreicht. Der Paul Hock-Park an der Brünnerstraße sollte umzäunt und nachts abgesperrt werden, um Sandlern und Jugendlichen einen weiteren der raren urbanen Freiräume zu zerstören. Sylvia Wilke erkämpfte die Offenhaltung. In der Obdachlosenszene und unter aufmerksamen AUGUSTIN-LeserInnen ist sie als "Schlafsack-Süval" bekannt. Ihre Schlafsack-Kampagnen für Wiens Straßenmenschen haben schon vielen erträglichere Winternächte beschert. Und seit drei Jahren trifft sie sich jede Woche mit den KollegInnen von der Arbeitslosen-Selbstorganisation AmSand.
"Und was machst du, wenn du nicht grad aktiv für die Ärmsten bist?" "Dann sitz ich im Wirtshaus und blödle mit Freunden. Wie hat Che Guevara gesagt? Vergessen wir, während wir kämpfen, nicht die Zärtlichkeit."
Dabei hätte Sylvia Wilke im Moment guten Grund, verbittert zu sein. Ihr wird gerade übel mitgespielt, sehr übel. Mit ihrer kleinen vorzeitigen Alterspension (wegen Langzeitarbeitslosigkeit) plus der Aufwandsentschädigung, die sie als Bezirksrätin bekommt, könnte sie ihr Leben gestalten: bescheiden, aber erträglich. Doch die Pensionsversicherungsanstalt strich ihr die Pension weg, als sie im Mai vergangenen Jahres ihr Mandat in der Bezirksvertretung annahm. Nur 4070 Schilling dürfte sie dazuverdienen, um den Pensionsanspruch zu bewahren. Die Aufwandsentschädigung, die die Pensionsversicherungsanstalt als Zusatzeinkommen interpretiert, beträgt aber 5001 Schilling, 14 mal im Jahr. Sylvia Wilke hätte also ihr Mandat nicht annehmen dürfen oder zumindest auf einen Teil der Aufwandsentschädigung verzichten müssen. Doch was hätte das bedeutet? Zu akzeptieren, dass arme Leute bestraft werden, wenn sie sich "anmaßen", sich wählen zu lassen und Volksvertreter zu werden. Hinter den Aufwandsentschädigungen für BezirkspolitikerInnen (nicht zu verwechseln mit den Supergagen der Gemeinderatsmitglieder) steckt ja gerade die demokratische Idee, Einkommensschwache nicht aus den Institutionen der repräsentativen Politik auszuschließen.

Mandatsausübung ist keine Erwerbstätigkeit

Dieses Prinzip ist fein genug, um dafür zu kämpfen. Sylvia Wilke tut es, um einen hohen Preis. Sie muss zurzeit mit 5001 Schilling im Monat auskommen. Mit Unterstützung der Grünen hat sie eine Klage beim Sozialgericht eingereicht. Am 13. Februar ist erster Gerichtstermin. Enden wird das ganze, ahnt sie, vor dem Verwaltungsgericht. Dass sie dann Recht behält, ist nicht ausgeschlossen. Vor zwei Jahren hatte der Verwaltungsgerichtshof in einem ähnlich gelagerten Fall – ein Arbeitsloser sollte wegen des Bezirksratsmandats das Arbeitslosengeld verlieren – entschieden: Die Mandatsausübung ist keine Erwerbstätigkeit im Sinne des Arbeitslosenversicherungsgesetzes. Vielleicht bekäme die lokale Volksvertretung eine neue Qualität, wenn an ihr mehr Menschen mitwirkten, die aus dem sozialen Milieu der Nichtprivilegierten stammen.
Aus Sylvias Milieu. Sylvia Wilke hat eine schwere Kindheit erlebt. Sie wuchs ohne Eltern, in Kinderheimen auf. Als Schneiderin musste sie sich mit Minilöhnen abfinden, viele Jahre war sie arbeitslos. Trotz (oder wegen?) ihrer Lage gewährte sie anderen, die noch schlechter dran waren, ihre soziale Solidarität. Immer hatte sie, neben den eigenen, Pflegekinder an ihrer Seite. Zum Beispiel den zwölfjährigen Franzi, der den selbstmörderischen Fenstersturz seiner Mutter miterlebt hatte, auf die Psychiatrie kam und zu reden und zu essen aufhörte. Sylvia holte ihn zu sich in ihre Familie. "Eines Tages fing er an, mit meinem Sohn zu reden. Er wurde zu einem völlig normalen Kind." Innerhalb der Wiener Grünen gilt Sylvia Wilke als das verkörperte soziale Gewissen. Dass es für gewisse führende Grünpolitiker "eher ein Anliegen ist, Wien mit Dachterrassen zu übersäen, als die Menschen von der Straße wegzuholen", ärgert sie; mit Susanne Jerusalem verfüge sie aber eine sozialpolitisch kompetente Ansprechspartnerin in der grünen Rathausfraktion, sagt Sylvia Wilke.

Wer hilft mit beim Aufbau des ersten Kostnix-Ladens?

Gerade muss sie wieder ihre Hilfe in Anspruch nehmen. "Mein neuer Fall: Vater, Mutter, Tochter und Enkelkind leben in einer Wohnung zusammen. Die Mutter in einer psychischen Krise – zu krank, um zuhause sein zu können, zu wenig krank für die Psychiatrie. Jetzt kamen die Angehörigen drauf, dass Mutter seit einem Jahr keine Miete mehr für die Wohnung, die auf ihrem Namen lief, gezahlt hatte. Der Vater trieb rasch das Geld auf, aber es war zu spät. Die Familie wurde delogiert. Solche Fälle zu lösen, übersteigt meine Kompetenz und Kraft. Dafür brauch ich die Jerusalem." Die "Aktion Schlafsack", die vor vier Jahren mit einer negativen Antwort des Bundesheeres begann ("Die alten Schlafsäcke werden bei uns vernichtet") und mit unerwartetem Geldspendenfluss ihren Höhepunkt erreichte, nachdem die großbürgerliche "Presse" über Wilkes Projekt berichtet hatte, ist in dieser Form beendet. Doch Sylvia Wilke sammelt weiterhin Geld für obdachlose Menschen. Die Beträge werden der "Gruft" übermittelt, die dann selber entscheiden kann, wofür sie die Spenden verwendet: als Einstiegshilfe zur neuen Wohnung eines Klienten oder zum Einkauf für Waren, die Obdachlosen das Leben erleichtern.
Andere spinnen 1000 Ideen, um eine davon in die Wirklichkeit umzusetzen. Meine Schätzung: Bei Sylvia Wilke lautet das Verhältnis 10 zu 1. Die Chance, dass demnächst in Wien ein Kostnix-Laden eröffnet wird, steht also nicht allzu schlecht. Nach dem Vorbild der deutschen Umsonst-Läden (die Idee wurde in der vergangenen AUGUSTIN-Ausgabe vorgestellt) will Sylvia Wilke eine Infrastruktur für gelebte Solidarität, für praktische Umverteilung entwickeln, eine Oase in der Wegwerfgesellschaft. Im Kostnixladen kriegen Bedürftige funktionierende Gebrauchsgegenstände, die andere nicht mehr brauchen, gratis.
"Wenn der Laden steht, und es kommen Menschen, die deine Idee aus kommerziellen Interessen missbrauchen, indem sie vermarkten, was sie von dir gratis kriegen? Was tust du dann?" "Keine Angst. Ich rede mit ihnen auf menschlicher Basis". Mit Che´s Zärtlichkeit halt.
– Robert Sommer, © AUGUSTIN

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